Warum nicht alle das gleiche Wahrnehmen (können)

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Ich glaube, dass wenn wir Menschen ein größeres Bewusstsein für die Funktionsweise unserer Wahrnehmung hätten, könnten viele schwierigen zwischenmenschliche Dynamiken vermieden werden. Lasst uns einen Blick darauf werfen, über welche Erkenntnisse die Menschheit zum Thema Wahrnehmung verfügt und uns daraus ableiten, wie wir mit dem Phänomen „Wahrnehmung“ umgehen lernen können.

Definition von Wahrnehmung

Wahrnehmen ist der Prozess der Auseinandersetzung mit der sinnlich erfassbaren Außenwelt. Dabei gehen biologische und psychische Prozesse ineinander über:

  • Sinnesorgane, reizaufnehmende Nerven, Verarbeitungsinstanzen des Nervensystems (Gehirn u. a.)
  • Kognitive Prozesse des Auffassens, Filterns
Sechs oder Neun

Wahrnehmungen sind in der Regel von Person zu Person verschieden (interindividuelle Varianz). Selbst eine Person kann äußere Wahrnehmungen im Lauf der Zeit (z. B. heute und morgen) unterschiedlich interpretieren (intrapersonale oder intraindividuelle Varianz). Die Wahrnehmung ist von den im Moment des Prozesses vorherrschenden Gefühlen, Stimmungen, Wünschen und Ängsten abhängig. Diese und ihr Einfluss sind der wahrnehmenden Person häufig nicht bewusst.

Philosophische und wissenschaftliche Betrachtungen

Ist die Wahrnehmung nur eine zweckmäßige Vermutung, mit der wir solange leben, bis sie von einer anderen Vermutung abgelöst wird? Das behauptete zumindest am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts Hans Vaihinger in seiner „Philosophie des Als-Ob“.

Schon für den Philosophen Immanuel Kant war die objektive und zweifelsfreie Erkenntnis eines Gegenstands nicht möglich. Er war der Meinung, dass unsere Wahrnehmung eine Leistung unserer körpereigenen Sinnesorgane und somit Irrtümern unterworfen sei, daher könnten sie nie objektiv sein.

Wir haben die Möglichkeit zur objektiven Beurteilung, oder doch nicht?

Wahrnehmung und Wirklichkeit sind immer aktive Konstruktionen, Arbeitshypothesen und hirnphysiologische Ergebnisse. Diese These stützen die geisteswissenschaftliche Strömung des Konstruktivismus und Teile der modernen Psychiatrie. Ganz nach dem Satz des österreichisch-amerikanischen Denker Ernst von Glasersfeld, „Wenn die Welt, die wir erleben und erkennen, notwendigerweise von uns selbst konstruiert wird, dann ist es kaum erstaunlich, dass sie uns relativ stabil erscheint“ oder nach dem portugiesischen Schriftsteller Fernando Pessoa, „Was wir sehen, ist nicht, was wir sehen, sondern was wir sind„.

Auch der konstruktivistische Denker Paul Watzlawick hat sich mit dem Thema Wahrnehmung beschäftigt und eines der von ihm beschriebenen Phänomene ist die sich selbst erfüllende Prophezeiung. Wer zum Beispiel annimmt, man missachte ihn, wird sich eben deswegen in einer überempfindlichen, unverträglichen, misstrauischen Weise verhalten, die in dem anderen genau jene Geringschätzung hervorruft, die seine schon gehegte Überzeugung erneut beweist.

Das Fazit der Konstruktivisten ist, dass die einzig richtige und objektive Wahrnehmung nicht existiert. Das sollte uns aber nicht entmutigen, denn man kann auch gemeinsam mit anderen Menschen mit unterschiedlichen Weltbildern leben und den Alltag bestreiten (Wichtig heute daran zu erinnern), solange es eine gemeinsame Basis oder Überschneidung in der Wahrnehmung der Realität gibt. Außerdem kann die Abstraktion, die Fokussierung auf das Wesentliche uns helfen, uns besser in einer komplexen Welt zurecht zu finden. Diese Interpretationen sind also für das Bestehen im Alltag notwendig.

Neurowissenschaftliche Erkenntnisse

Auch die Ergebnisse der modernen Neurowissenschaft unterstützen die Einschätzung der Konstruktivisten. Das für die Verarbeitung der Wahrnehmungen beim Menschen verantwortliche System ist das Nervensystem (siehe Definition). Hierbei handelt es sich um ein geschlossenes System, das heißt, Nerven geben Impulse an andere Nerven weiter, diese geben die Impulse ebenfalls weiter und so entsteht eine Art Kettenreaktion. Sonst existiert in dem System nichts weiter. Wenn man sich eine solche Nervenzelle anschaut, dann verwenden diese zwar bestimmte Frequenzen, aber auch hier ist nichts weiter Wahrnehmendes enthalten. Das Nervensystem ist ein Netzwerk, das nicht zwischen innerhalb des Netzwerkes oder außerhalb des Netzwerkes unterscheiden kann. Und dadurch reagiert es immer nur auf selbst produzierte Impulse. Wenn also zum Beispiel Lichtimpulse über das Auge ins Gehirn kommen, also einem Teil des zentralen Nervensystem, dann wird dort kein Licht transportiert, sondern nur der übersetzte und transformierte Nervenimpuls. Auch aus diesem Wissen lässt sich ableiten, dass in unserem Körper keine vollständige Abbildung der Realität verarbeitet wird, sondern nur die übersetzten Impulse.

Der Buddhismus hat sich viel mit der Wahrnehmung beschäftigt

Im Buddhismus ist der Geist der zentrale sechste Sinn neben den uns im Westen bekannten fünf Sinnesorganen (Sehen, Hören, Schmecken, Fühlen, Riechen). Er empfängt aber nichts direkt von „außen“, er hat keine direkte Verbindung nach außen. Der Geist empfängt von den fünf Sinnen was diese von der Außenwelt empfangen haben. Insoweit stimmt das Bild noch mit dem westlichen Modell überein. Im Buddhismus empfängt der Geist, also der sechste Sinn, darüber hinaus aber noch unmittelbare Eindrücke aus dem Inneren, zum Beispiel das Aufkommen von Ärger oder Mitleid. Diese Eindrücke verarbeitet er bei seiner Arbeit der Wahrnehmung mit und bewahrt sie bei sich auf. Hierbei handelt es sich um eine interessante Fortführung der westlichen Sichtweise und um eine nach den aktuellen Erkenntnissen sehr realitätsnahe Einschätzung der Wirklichkeit (was auch immer das ist).

Aber schauen wir uns nun die praktische Bedeutung all dieser Überlegungen für unseren Alltag an.

Wahrnehmung als aktiver Prozess

In der Regel glauben wir, dass der Lernprozess des Wahrnehmens schon in frühester Kindheit abgeschlossen wurde und dass unsere Wahrnehmung eindeutig und ohne Selbsttäuschungen abläuft. Doch dann passiert etwas Unerwartetes, Veränderungen beim Arbeitgeber, Krankheiten oder eine neue Beziehung. Unser Blick auf die Welt und damit unsere Wahrnehmung verändert sich.

Wenn wir dann unser Alltagserleben analysieren, können wir diese Konstruktionen, Vereinfachungen und „Voreingenommenheiten“ auch erkennen. Aber nur, wenn Veränderungen uns dazu zwingen oder wir uns die Mühe der Analyse aus einem anderen Grund machen. Häufig hinterfragen wir unsere Wahrnehmungen aber nicht und somit bleibt uns verborgen, dass Wahrnehmung ein aktiver Vorgang ist. Das, was wir wahrnehmen oder wie wir unsere Wirklichkeit sehen, ist kein bloßes passives Abbild dessen, was da draußen in der Welt ist, sondern es ist auch eine aktive Selektionsleistung. Wir wählen aus, was wir wahrnehmen. Dadurch wird Wahrnehmung zu einem aktiven Konstruktionsprozess. Hinzu kommt, das wir diese Wahrnehmung auch noch mit Sinn versehen. Wir konstruieren einen Zusammenhang in das Wahrgenommene gemäß einer Ursache-Wirkung oder Kausalität. Das ist evolutionär in uns verankert und notwendig, um gezielt handeln zu können. Daher kann dieses Handeln nur auf einer Hypothese basieren, die wir für uns selbst konstruiert haben. Das bedeutet nicht, dass sie falsch oder wahr ist, sie erklärt aber basierend auf unserem Weltbild die Bilder und Geschehnisse, die wir da sehen. Wahrnehmung ist also Teil eines aktiven Erstellen und Bestätigen eines Weltbildes.

Aktive Auswahl und Konstruktion eines Zusammenhangs
-> Bestätigung unseres Weltbildes

Alles, was wir wahrnehmen, vergleichen wir mit uns aus der Vergangenheit bekannten Mustern, um uns eine Vorstellung der Welt zu kreieren, das sie für uns erklärbarer macht. Hierbei handelt es sich um einen Entwicklungsprozess, der sich immer wieder wiederholt, und je mehr Informationen wir bekommen, desto komplexer wird das Gesamtbild. Die Konstruktivisten sprechen hier von der Strukturbestimmtheit unserer Wahrnehmung – wir nehmen wahr, wie wir gestrickt sind. Und produzieren zweckmäßige „Irrtümer“ (Annahmen), deren Sinn es ist, sie solange zu gebrauchen, bis wir es durch weitere Informationen besser wissen. Eine Änderung an dem Bild könnte zum Beispiel durch bisher vor uns verborgene Informationen initiiert werden. Wir könnten diese aber auch bewusst oder unbewusst ausblenden, um eine Anpassung unserer Konstruktion zu vermeiden.

Im günstigsten Fall stimmt unser Bild mit der Realität überein. Doch in einer Fülle von Experimenten und Gedankenspielen lässt sich feststellen, dass Wahrnehmung nicht automatisch eine Eins-zu-Eins-Entsprechung mit der Wirklichkeit herstellt. In den Worten des Konstruktivisten Ernst von Glasersfeld: Was wir erleben und erfahren, erkennen und wissen, ist notwendigerweise aus unseren eigenen Bausteinen gebaut und lässt sich auch nur aufgrund unserer Bauart erklären.

Wir haben ein Weltbild und unsere Wahrnehmungen bestätigen diese daraus resultierenden Vorannahmen. Die überzeichnete, aber dadurch anschauliche Geschichte des Mannes, der durch die Straßen läuft und in die Hände klatscht, beschreibt diesen Prozess sehr schön. Dieser Mann trifft einen Bekannten und der fragt ihn: „Warum klatschst du in die Hände?“. Daraufhin antwortet er, dass er das mache, um die Elefanten zu verscheuchen. Darauf entgegnet ihm der Bekannte, dass hier doch keine Elefanten seien. Worauf der Mann ihm lächelnd erwidert: „Da siehst du, dass es wirkt.“

Kreieren unserer Wahrheiten auf Basis unserer Erwartung
-> Strukturierung unserer Wahrnehmung

Ich selbst beobachte auch bei mir manchmal etwas zu übersehen und dieses Phänomen nennt man dann in gewissen Kontexten gemeinhin Betriebsblindheit.

Gruppen-Wahrnehmung, was steckt dahinter

Zu all den vorgenannten Aspekten kommt noch ein weiterer wichtiger Aspekt hinzu, nämlich unsere Angewohnheit unsere Wahrnehmungen mit der Resonanz aus unserem Umfeld abzugleichen. Das Feedback unserer Peer-Gruppen bestimmt also auch unsere Wahrnehmungen. Dazu gibt es verschiedene Untersuchungen. Bei einem Experiment wurden zehn Versuchspersonen, von denen neun in den Sinn des Vorhabens eingeweiht waren, zwei Tafeln gezeigt. Auf der ersten Tafel befand sich eine Linie, auf der zweiten Tafel drei Linien mit jeweils unterschiedlichen Längen.

Die Probanten sollten nun sagen, welche von den drei Linien der einzelnen Linie auf der ersten Tafel entsprach. Die Wahl schien einfach, doch die neun Eingeweihten behaupteten, die viel zu langen Striche stimmten mit der einzelnen überein. Hierbei handelte es sich um eine absurde und offensichtlich falsche Behauptung. Trotzdem schloss sich die zehnte Versuchsperson nach einiger Zeit dieser unsinnigen Überzeugung an.

Konstruktion von Objektivität

Menschen vergewissern sich ihrer Wahrnehmung durch Rückmeldungen aus ihrer Umgebung. Nach einiger Zeit können Menschen mit anderen Überzeugungen ihre Meinung an die der Gruppe anpassen oder wenn es möglich ist, werden sie diese Gruppe verlassen. Objektivität wird ja genau so konstruiert. Wir schauen zu welchem Schluss andere Beobachter kommen und so wie die Mehrheit die Situation beurteilt, so entsteht die Objektivität. Haben wir eine andere Wahrnehmung neigen wir dann sogar eher dazu, an unserer Wahrnehmung zu zweifeln. Menschen sind sehr sensibel darin, was andere denken und wahrnehmen und messen sich und ihren gesellschaftlichen Wert daran. So entstehen Moden, Trends und politische Überzeugungen und so kann man auch sozialpsychologischen und Massenphänomene erklären.

Der Wahrnehmung auf die Schliche kommen – die Metaebene

Jeder Mensch nimmt wahr, beobachtet, aber kaum jemand hinterfragt seine Beobachtungen. Selten fragt man sich wie man beobachtet, welche Voraussetzungen haben dazu geführt, etwas für wahr zu halten. In der Literatur werden zwei Arten von Beobachtungen unterschieden: Beobachtung erster und zweiter Ordnung.

Beobachtung erster Ordnung ist die Beobachtung selbst, also unsere täglichen Erfahrung. Beobachtungen zweiter Ordnung ist, wenn man sich beim Beobachten selbst beobachtet. Man reflektiert wie man selbst beobachtet, um sich darüber klar zu werden, welche Bewertungen, Weltbilder und Konstruktionen der Wahrnehmung zugrunde liegen. Man kann also beobachten, wie man selbst beobachtet oder auch wie andere beobachten. Daraus kann man vielfältige Hierarchien mit einer gewissen Komplexität konstruieren. Besonders komplex, aber auch hilfreich für das Verständnis des Verhaltens anderer Personen, wird es dann, wenn man sich in die Beobachtung anderer hineinversetzt. Wenn man versucht, in einer fremden Wahrnehmungswelt zu leben und ihr entsprechend zu handeln. Es gibt ein indianisches Sprichwort das diesen Versuch bildlich ausdrückt:

Urteile nie über einen anderen, bevor Du nicht einen Mond lang in seinen Mokassins gelaufen bist.

Schlüssel zum Erfolg ist die Fokussierung der Aufmerksamkeit, also Achtsamkeit

Man kann lernen bewusst wahrzunehmen. Der Schlüssel dabei ist die Aufmerksamkeitsfokussierung, das heißt, bewusst zu registrieren, worauf sich meine Wahrnehmung konzentriert. Diese wird nämlich davon gesteuert, worauf unsere Aufmerksamkeit gerichtet ist. Die Fokussierung der Aufmerksamkeit, das ist das Schlüsselwort. Denn so trivial wie es klingt, wo wir nicht hinschauen, nehmen wir auch nichts wahr. Allerdings bestimmen unsere Prägung und unsere Konditionierung im übertragenen Sinne, wohin wir schauen und wo wir nicht hinschauen. Und diesen Autopilot gilt es zu durchschauen und mit Achtsamkeit ahrzunehmen, zu überprüfen und wieder selbst in den Fahrersitz unseres Lebens zu steigen.

Vielleicht kann die folgende Übung Ihnen helfen, einen ersten Eindruck von Ihrer eigenen Prägung, Ihrem bestimmenden Weltbild und den unausgesprochenen Vorannahmen bei Wahrnehmungen zu erarbeiten. Die Aufgabe besteht darin, die nachfolgend dargestellten 9 quadratisch angeordnete Punkte mit einem Stift vier gerade Linien zu verbinden, ohne den Stift abzusetzen.

9-Punkte Rätsel

Details zu dem Rätsel finden sie auf der Wikipedia-Seite „Neun-Punkte-Problem“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 4. Juni 2019, 18:59 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Neun-Punkte-Problem&oldid=189256394 (Abgerufen: 3. Februar 2020, 12:04 UTC)

Fazit

In der Interaktion mit anderen ist es wichtig, sich auf eine gemeinsame Realität (Wahrnehmung) zu einigen, also einen größtmöglichen gemeinsamen Nenner und von da ausgehend die nächsten Schritte zu planen. Dazu ist es notwendig sich beim eigenen Wahrnehmen achtsam zu beobachten, um das Wahrgenommene einordnen zu können. Wir vermuten häufig, dass wir alle das Gleiche wahrnehmen und die gleichen Schlüsse aus der Beobachtung ziehen, das Hinterfragen dieser Vermutung ist aber eher die Ausnahme als die Regel. Daher ist es notwendig, sich vor allen Diskussionen und Kommunikationen im allgemeinen, auf eine gemeinsame Basis zu verständigen. Gelingt dies nicht oder wird dieser Schritt ausgelassen, werden Abstimmungen in Auseinandersetzungen und unnötigen Energieverschwendungen enden.

Es gibt am Menschen absolut nichts zu verändern, außer der Wahrnehmung seiner selbst.

Renate Moog, Coach

In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein achtsames Wahrnehmen.

Selbstverantwortung und im Kontakt mit sich selbst

In der aktuellen Episode des Podcasts „Arbeitsphilosophen – Die Zukunft der Arbeit“ diskutiert Frank Eilers mit Frédéric Laloux über die Generierung von Bedürfnissen und das Handeln von globalen Konzernen. Es geht dabei aber nicht um eine Predigt von der Kanzel, sondern um das Appellieren an das Gewissen von jedem einzelnen. In vielen Diskussionen erlebe ich, dass die Abwertung der Meinung oder Einstellung „Der Anderen“ im Vordergrund steht. Der Wille eine gemeinsame Lösung zu erarbeiten fehlt häufig. Um das zu erreichen, ist meiner Meinung nach ein in Kontakt sein mit sich selbst, seinen Werten, Wünschen und Bedürfnissen notwendig. Diese Fähigkeit fehlt aber regelmäßig und Menschen wurde zum Beispiel mit Werbung abtrainiert wie das geht. Das Gesellschaftssystem trägt damit zu seiner eigenen Erhaltung bei und Veränderungen werden dadurch erschwert.

Frédéric Laloux erörtert im Gespräch mit Frank Eilers warum unser bisheriges Wirtschaftssystem in der aktuellen Form nicht weiter existieren kann. Frédéric vermittelt das aber nicht als Moralapostel im Sinne von „Das macht man weil es gut ist“. Ihm geht es vielmehr um das Gewissen von jedem einzelnen.

Achtung Rutschgefahr

Er schlägt vor, dass sich jeder selbst hinterfragt und in seinem Innersten forscht, „habe ich eigentlich Lust da mitzumachen, oder nicht“, „mag ich mich eigentlich selber, bin ich stolz auf mich“. Also nicht mit dem Zeigefinger auf andere zeigen und „die anderen sind böse“ oder „das müssten wir machen“. Er glaubt, dass wir nur etwas verändern, wenn wir uns gegenseitig zum Reflektieren darüber einladen, „woran möchte ich selber teilhaben oder eben nicht teilhaben“.

Meditation als Weg zu sich

Ich finde genau um diese Haltung geht es, nämlich mit sich selbst anfangen, hinterfragen, was ist mir wichtig und dann dazu auch stehen. Um mit uns selbst, unseren Werten, Bedürfnissen und Wünschen in Kontakt zu kommen, hilft die tägliche Meditation. Wenn mehr Menschen mit sich in Kontakt wären, könnte viel aus der eigenen Unsicherheit heraus resultierendes mit dem Zeigefinger auf andere zeigen und die Abwertung von anderen vermieden werden.

Von Innen nach Außen

Wir sitzen alle zusammen im gleichen Boot und nur gemeinsam können wir den Herausforderungen unserer Zeit begegnen. Stephen R. Covey hat schon im Jahr 1989 in seinem Buch „Die 7 Wege“ den Grundsatz zu Glück und Erfolg geprägt, „Von Innen nach Außen„. Wir kommen auf diese Welt als von anderen abhängige Lebewesen, wir streben dann in unserer Pubertät und Jugend Unabhängigkeit an und erkennen im Laufe unseres weiteren Lebens hoffentlich die wechselseitige Abhängigkeit (Interdependence). So funktioniert die Welt. Zu dieser Einsicht sollten wir meiner Meinung nach kommen.

Das Atmen beeinflusst unsere kognitiven Fähigkeiten

Laut neuesten Forschungsergebnissen synchronisiert sich die neuronale Aktivität in der Großhirnrinde mit dem Rhythmus der Nasenatmung. Das könnte die Ursache für die außergewöhnlichen Erfahrungen von Meditierenden sein, die sich bewusst auf jeden Atemzug konzentrieren. In Experimenten wurde nachgewiesen, dass sich zum Beispiel während des Einatmens das räumliche Vorstellungsvermögen und die Merkfähigkeit verbessern. Vermutlich strukturiert der Atem-Rhythmus die Gedächtnisprozesse.

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Beginnt man zu meditieren, empfehle ich (und viele andere Lehrende auch), die Konzentration auf die Atmung zu lenken. Zum Beispiel kann man die Atemzüge zählen. Sobald man sich in Gedanken verliert oder bei 10 angekommen ist, fängt man wieder von vorne an zu zählen. Das klingt zwar einfach, aber häufig schafft man keine 10 Atemzüge mit der Aufmerksamkeit bei dem Atem zu bleiben oder man ertappt sich, wie man weiter als 10 gezählt hat. Bei Meditierenden die mit Ihrer Aufmerksamkeit beim Atem bleiben, entsteht schnell eine Synchronisation im Gamma-Rhythmus. Diese höherfrequenten neuronalen Rhythmen werden insbesondere mit höheren kognitiven Prozessen, wie der Merkfähigkeit, in Verbindung gebracht.

Der französische Apnoetaucher Guillaume Néry hat im Interview mit der Zeitschrift „Gehirn & Geist“ die Behauptung aufgestellt: „Besser atmen zu lernen bedeutet, besser leben zu lernen.“ Außerdem hat er fünf Übungen empfohlen, die ihm helfen, wenn er angespannt ist (z.B. bei Lampenfieber vor Pressekonferenzen oder Fernsehsendungen)

  1. Atemmeditation: Setzen Sie sich bequem und würdevoll hin und schließen Sie, wenn das jetzt möglich ist, die Augen. Beobachten Sie den Atem, ohne ihn zu verändern. Nehmen Sie die Empfindungen an den Nasenflügel, Brust und Bauch wahr, wen der Atem in den Körper einströmt. Und wenn Sie bemerken, dass Ihre Aufmerksamkeit abschweift, dann nehmen Sie dies gelassen zur Kenntnis und richten Ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Atem.
  2. Bauchatmung: Versuchen Sie, Ihren Bauch so weit wie möglich beim Einatmen nach vorne zu drücken. Beim Ausatmen leeren Sie zuerst Ihren Bauch und dann Ihre Brust. Am Anfang kann die Übung im Liegen mit einer Hand auf dem Bauch geübt werden.
  3. Den Atem entschleunigen: Halten Sie zwischen den Atemzügen inne, versuchen Sie bewusst Ihren Atem zu verlangsamen, vielleicht von den üblichen zwölf Zügen pro Minute auf sechs zu halbieren.
  4. Wechselatmung: Atmen Sie langsam durch ein Nasenloch ein und aus, während Sie das andere mit einem Finger zuhalten. Danach wechseln Sie und Atmen durch das andere Nasenloch. Die Übung stammt aus dem Yoga und hilft nachweislich bei Lampenfieber, akutem Stress und Angst.
  5. Beruhigende Gedanken: Sagen Sie sich selbst bei jedem Atemzug einen hilfreichen Satz, z.B. „Ich atme ruhig ein“. Beim Ausatmen können Sie Anspannungen loslassen und sich z.B. sagen „Ich lasse gehen“.

Grundsätzlich ist hilfreich sich im Alltag immer wieder seines Atems bewusst zu sein. Diese Bewusstheit kann man z.B. beim Meditieren oder beim Yoga lernen.

Ich weiß zwar nicht, was Du sagen wirst, aber ich weiß, dass es bedeutsam sein wird

Meiner Meinung nach wird die Kompetenz des Zuhörens völlig unterschätzt, obwohl sie, insbesondere in unserer Zeit und angesichts der drängenden gesellschaftlichen Herausforderungen, sehr hilfreich sein könnte. Denn durch Zuhören ist es möglich Antworten auf drängende Fragen zu finden.

In „SWR2 Wissen – Zuhören – Eine vergessene Kunst?“ werden verschiedene Gesichtspunkte und Perspektiven zum Zuhören beleuchtet. Der Podcast ist zwar schon aus dem Jahr 2017, hat aber von seiner Aktualität nichts verloren. Es ist ein hilfreicher und motivierender Podcast für alle, die sich vorgenommen haben anderen besser zuzuhören (oder es sich noch vornehmen wollen).

Stress, Hektik und die digitalen Medien verhindern häufig, dass wir einander wirklich zuhören. In unserer heutigen Zeit scheint dafür die Zeit zu fehlen. Doch aktives Zuhören kann heilsam sein – für beide Seiten. Nicht nur in der Beratung ist Zuhören eine wichtige Fähigkeit, auch für Führungskräfte ist richtiges Zuhören eine notwendige Kompetenz. Es ist erstaunlich, wie Dinge die unlösbar erscheinen, lösbar werden, wenn jemand zuhört; wie sich Verwirrungen, die unentwirrbar scheinen, in relativ glatt fließende Ströme verwandeln, wenn man gehört wird. Vor diesem Hintergrund, kann der Podcast auch für Führungskräfte eine Quelle hilfreicher Informationen sein.

Wer mit sich selber nicht ruhig und aufmerksam sein kann, der kann sich auch anderen Menschen nicht wirklich zuwenden. Das klingt für mich nach achtsamem Zuhören, nach achtsamer Kommunikation.

Selbstwahrnehmung

Eine gute Selbstwahrnehmung kann schon in der Jugend vor Depressionen schützen. Zu diesem Ergebnis kam eine neue Studie von der University of Rochester. Dort wurde untersucht, ob die fehlende Fähigkeit unangenehme Emotionen nach stressigen Lebensereignissen differenziert wahrzunehmen und auszudrücken die psychische Gesundheit von Teenagern beeinträchtigt. Dabei wurde herausgefunden, dass es für die psychische Gesundheit unterstützend ist, wenn man in der Lage ist unerfreuliche Emotionen differenziert zu beschreiben – insbesondere wenn es um die Vermeidung von depressiven Symptomen geht.

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„Jugendliche, die ihre negativen Gefühle präzise und nuanciert beschreiben können, wie“ Ich fühle mich verärgert“ oder „Ich fühle mich frustriert“ oder „Ich schäme mich„- anstatt einfach „Ich fühle mich schlecht“ zu sagen – sind besser vor der Entwicklung von depressiven Symptomen geschützt. Dies gilt insbesondere nachdem sie eine Krankheit oder ein stressiges Lebensereignis durchlebt hatten“, sagt die Leitautorin der Studie Lisa Starr, Assistenzprofessorin für Psychologie.

Jugendliche die negative Emotionen sprachlich weniger differenzieren können, beschreiben diese mit größerer Wahrscheinlichkeit mit weniger spezifischen Begriffen wie „schlecht“ oder „verärgert“. Solche Teenager können weniger gut aus ihren Erfahrungen lernen und auch weniger gute Strategien für den Umgang mit negativen Emotionen und belastenden Erlebnissen entwickeln.

Emotionen vermitteln uns eine Menge an Aspekten über uns selbst

„Emotionen vermitteln uns eine Menge an Aspekten über uns selbst“, sagt Star. Sie vermitteln Informationen über die Stimmung, den Grad der Erregung, die Bedeutung einer Situation und eine Einschätzung der Bedrohlichkeit für eine Person. Menschen müssen alle diese Informationen integrieren, um herauszufinden – „fühle ich mich gereizt“ oder „fühle ich mich wütend, verlegen oder welche andere Emotion ist präsent?

Während der Studie stellten Starr und ihr Team fest, dass eine geringe Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung die Korrelation zwischen Depression und stressigen Ereignissen im Leben verstärken kann.

Für die Untersuchung unterzog Starr und ihr Team 233 Jugendliche diagnostischen Interviews. Sie waren durchschnittlich 16 Jahre alt und etwas mehr als die Hälfte davon weiblich. Danach berichteten die Teilnehmer dann viermal täglich eine Woche lang über ihre Gefühle.

Fähigkeit auch unangenehme Gefühle anzunehmen benötigt

Das Forschungsteam hat dann nach anderthalb Jahre erneut Interviews mit 193 Teilnehmern geführt. Dabei stellten sie fest, dass Jugendliche, die Schwierigkeiten hatten negative Emotionen zu differenzieren, nach einem stressigen Lebensereignis eher mit Depressionssymptomen zu kämpfen hatten. Aber diejenigen die dazu besser in der Lage waren, konnten die Wahrscheinlichkeit einer Depressionsdiagnose verringern. Laut Starr beginnt die Veränderung der Art und Weise, wie man sich fühlt, mit der Fähigkeit, diese Gefühle anzuerkennen.

„Grundsätzlich muss man wissen, wie man sich fühlt, um verändern zu können, wie man sich fühlt“, sagt Starr. „Ich glaube, dass unsere Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und zur Differenzierung der Gefühle erlernbar ist.“ „Unsere Daten deuten darauf hin, dass sich Menschen, wenn Sie in der Lage sind, Gefühle differenziert zu beschreiben, vor stressigen Erfahrungen und dem negativen Effekten von Stress schützen können“, fügt sie hinzu.

Ein kürzlich durchgeführtes Experiment mit mehr als 1000 Versuchspersonen, zeigt, dass eine schwache Selbstwahrnehmung auch bei Erwachsenen ein Hinweis auf psychische Probleme sein kann. Die Entwicklung von psychischem und körperlichen Wohlbefinden ist beeinträchtigt, wenn das subjektive Stresserleben nicht mit den objektiven Stressindikatoren übereinstimmt.

Achtsamkeit zum Training der Selbstwahrnehmung

Mit dem Training von Achtsamkeit, zum Beispiel durch die Teilnahme an einem MBSR (mindfulness-based stress reduction) Kurs, kann die Selbstwahrnehmung geschult und dadurch möglicherweise das psychische Wohlbefinden verbessert werden. Wir tendieren häufig dazu negative Gefühle verdrängen zu wollen, aber gerade durch das Anerkennen und die Fähigkeit diese Gefühle differenziert beschreiben zu können, können depressive Symptome vermiden und reduziert werden.